Sollbruchstellen

 

Zu den Standardsprüchen meiner Oma gehörte der Kommentar: „Eine Reparatur kommt selten allein“, und es war schon erstaunlich, wie oft sie damit Recht hatte. Wenn sie z.B.  am Montag ihre Schuhe zum Schuster brachte, funktionierte plötzlich am Dienstag die Klospülung nicht mehr und sie musste den  Klempner rufen. Oder sie biss  zu kräftig auf ein besonders knuspriges Brötchen und verlor dabei eine Plombe – und am nächsten Tag brach ihr der linke Brillenbügel ab.

Daran musste ich denken, als jetzt kurz hintereinander meine Küchenmaschine und mein Heizkissen ihren Geist aufgaben. Vor allem  passte mir der Ausfall des Heizkissens gerade gar nicht in den Kram. Das war nach meinem Sturz von der Leiter (siehe der Text „Mein Körper – mein Feind?“) zur Linderung der Rückenschmerzen täglich in Betrieb. Der Verursacher der Beschwerden, ein eingeklemmter Nerv, ließ sich nur sehr zögerlich besänftigen und würde sicher ausgesprochen unwirsch reagieren, wenn jetzt plötzlich die Wärmezufuhr ausblieb.

Bei der Küchenmaschine war ja mit dem letalen Ereignis zu rechnen gewesen, denn sie hatte mir seit dem Mauerfall treu gedient. Das Heizkissen aber erwischte mich mit seinem unerwartet frühen Ableben kalt. Die Küchenmaschine, meine erste übrigens, hatte ich wenige Tage nach der Umstellung unserer Geschäfte auf den neuen Standard West gekauft. Wer von Ihnen auch aus der DDR und vor 1987 geboren ist, erinnert  sich garantiert an den Tag, als die Läden plötzlich mit einem komplett neuen Warenangebot  aufwarteten. Über Nacht war ein logistisches Wunder vollbracht worden: Die meisten Ostprodukte waren verschwunden, an ihre Stelle  – und auch an alle Stellen mit gähnender Leere – waren die begehrten Artikel aus dem Westen getreten, die man aus der Werbung kannte.  Die Leute drängten sich vor den Schaufenstern und Auslagen, staunten nicht schlecht, aber kauften nur zögerlich. Noch trauten sie den neuen Möglichkeiten nicht so recht.

Im Kaufhaus,  Abteilung Haushaltsgeräte/Elektrowaren, erkundigten sich die meisten Besucher vorerst nur nach den Preisen, oft auch nach den Konditionen einer Ratenzahlung, und wollten später wiederkommen. Die Frau vor mir beispielsweise ließ sich von dem Verkäufer die Preisunterschiede zwischen den verschiedenen Farbfernsehern erläutern und fragte zum Schluss: „Und was ist mit einem Rabatt für Kinderreiche?“ Der Mann warf ihr einen Blick zwischen verständnislos, mitleidig und arrogant zu: „Gute Frau, die Zeiten sind vorbei. Und Konsum-Marken gibt es auch nicht mehr.“ Er gehörte zu den – nennen wir sie – Vorarbeitern, die ihren Arbeitsplatz für einige Wochen (oder länger) in den Osten verlegt hatten, selbstverständlich gegen Zahlung einer Aufwandsentschädigung, um Amtshilfe zu leisten. Schließlich mussten die hiesigen Verkäuferinnen nachgeschult werden, etwa in puncto Verkaufskultur, Stichwort „Der Kunde ist König“. Auch der Verlust ihrer bescheidenen Machtposition, die darin bestand, einer handverlesenen Kundschaft  „Bück-dich-Ware“ (1) zukommen zu lassen, musste ihnen erst verklickert werden. Wenn ich vorher nur mit dem Gedanken gespielt hatte, mir eine Küchenmaschine Marke „AKA Elektrik“ zuzulegen – jetzt, angesichts dieses  selbstgefälligen, sendungsbewussten Verkäufers, war ich fest entschlossen. Als eines der wenigen Ostprodukte, das den Warentausch überlebt hatte, fristete die kleine AKA-Küchenmaschine noch für kurze Zeit ein Nischendasein, bevor sie endgültig vom Markt verschwand. An den sperrigen Slogan „Aktiv auf dem Markt – Konzentriert in der Handelstätigkeit –Aktuell im Angebot“, der die drei Buchstaben für ihren Markennamen lieferte, erinnert sich heute kaum noch jemand. Auch der Reklamespruch, eine vergleichsweise kreative Hervorbringung der mickrigen DDR-Werbeindustrie, ist längst obsolet: „AKA Elektrik – in jedem Haus zu Hause!“  Schon damals gehörte mein Maschinchen zu den letzten Überlebenden dieser Art. Der Verkäufer hatte es mir mit einem missbilligenden Lächeln und den Worten ausgehändigt: „Na, Sie müssen ja wissen, was Sie tun!“ Er würde wohl kaum glauben können, dass mir mein bescheidenes Küchenhelferlein mehr als 30  Jahre lang  zuverlässig und genügsam zu Diensten war. Nun ließ sich die natürliche Materialermüdung nicht mehr länger hinhalten und forderte ihren überfälligen Tribut.

Ganz anders bei meinem Heizkissen: Das ist keine drei Jahre alt geworden und an den Folgen einer aktiven Sollbruchstelle verendet. Den ominösen Begriff glaubte ich schon aus DDR-Zeiten zu kennen, allerdings  bezeichnete er da ein harmloses, als potentiell nützlich empfundenes Phänomen, dessen Wirkung der Mensch bei Bedarf ausnutzten und verstärken konnte. In diesem Sinne und als Hauptbedeutung will auch Wikipedia das Wort mit Verweis auf seine ursprüngliche Semantik verstanden wissen: Es handle sich um „eine durch besondere Struktur, Gestalt oder Konstruktion … bestimmte Stelle, die bei Belastung oder Überlast vorhersagbar bricht“. Die dann folgenden Beispiele leuchten wohl jedem ein. So werden Schokoladentafeln mit Kerben versehen, damit sie leichter in gleichmäßige, mundgerechte Stücke zerteilt werden können. Oder Arzneimittel-Ampullen aus Glas werden an ihrem Hals vorgeritzt, damit sie genau an der Stelle brechen, wo die Gefahr, sich zu verletzen oder einen Teil des Inhalts zu verschütten, am geringsten ist. Oder beim Entwurf von Verpackungen wird neben ihrer kostengünstigen, aber zugleich ästhetisch ansprechenden Umsetzung auch bedacht, dass sie einen guten Schutz vor Beschädigungen bieten und bequem zu öffnen sein sollen. Den Ruf einer zuverlässigen Technik für das  Öffnen von Verpackungen aus Papier oder Pappe haben sich z.B. die Perforation und die Reduzierung des sogenannten „Durchreißwiderstandes“ erworben, weil sie nur ein simples Abknicken oder Aufreißen des Materials an der präparierten Stelle erfordern. Auch die Integration eines Aufreißfadens oder das Setzen von leicht zu lösenden Klebepunkten gehören zum Repertoire kundenfreundlicher Sollbruchstellen, wobei mittlerweile der eigentlichen Zweck solcher Vorrichtungen des öfteren  überstiegen wird. Maik Krüger hat solcher verpackungstechnischer Übereifer zu dem bekannten Lied vom „Nippel“, den man erst „durch die Lasche ziehn“ müsse, inspiriert. Etwa zur gleichen Zeit sang die Ostberliner Kabarettistin Helga Hahnemann von ihrem geliebten Tante-Emma-Laden um die Ecke, wo die Lebensmittel in Ermanglung von Verpackungsmaterial „ins Zentralorgan eingewickelt“ wurden (gemeint ist die Zeitung „Neues Deutschland“ = ND). Und der Satiriker und Kabarettist Hans-Georg Stengel dichtete einen Vierzeiler mit dem Titel: „Verpackungsklage“.

Ob man berlinert oder sächselt,

von Pankow klingt’s bis Siebenlehn:

„Der Worte sind genug gewechselt,

nun lasst uns endlich Tüten sehn!“

Wenn die Mangelwirtschaft der DDR einen Vorteil hatte, dann den, sich eine bestimmte Art von Sollbruchstellen gar nicht leisten zu können. Die lernte ich erst nach der Wende kennen. Es brauchte nicht lange, um Erfahrungen mit der negativen Bedeutung von solchen Stellen zu sammeln, die das Gegenteil von verbraucherfreundlich waren. Welchen Sinn sollte es z.B.  haben, dass mein Heizkissen so schnell seinen Geist aufgegeben hat? Die Antwort liegt auf der Hand, sobald man eine gewisse kriminelle Energie der Hersteller für möglich hält. Offenbar werden geeignete Produkte, vorzugsweise Elektrogeräte, mit maßgeschneiderten Sollbruchstellen ausgestattet, die ihre Lebensdauer künstlich verkürzen und für ihr plötzliches und unerwartet frühes Sterben sorgen. Mit anderen Worten: Die Kunden werden willentlich und wissentlich geschädigt, während die Hersteller den Absatz ihrer Produkte beschleunigen und ihren Profit ankurbeln. In einem Gesellschaftssystem, zu dessen unabdingbaren Voraussetzungen ein stetiges Wirtschaftswachstum gehört, ist man als Produzent quasi gezwungen, sich etwas einfallen lassen, wenn der Markt gesättigt ist und die Nachfrage stagniert. Die Zauberworte heißen Expansion, Innovation, Manipulation und Nötigung zur Investition. Mein Heizkissen ist nur ein bescheidenes Beispiel dafür, dass die einschlägigen Firmen nach dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik ganze Arbeit leisteten. Sie  nutzten die einmalige Chance, die vorgefundene Elektroindustrie, wo nur irgend möglich, zu verdrängen und ihr Absatzgebiet zu erweitern. Die Geschäfte kamen schnell ins Rollen und die hinzu gewonnenen finanziellen Spielräume wurden nicht zuletzt für die Weiterentwicklung von Produkten genutzt, die mit der Aufschrift „NEU!“ den Kaufanreiz steigern sollten. Die Bürger der frisch einverleibten Bundesländer waren am Anfang noch sehr empfänglich für Botschaften aus der Trickkiste der Werbeindustrie und ließen sich Bedürfnisse einreden, die sie eigentlich gar nicht hatten. Mit meinem Heizkissen war auch ich ein Opfer dieser Manipulation geworden, denn eigentlich besaß ich ja einen voll funktionsfähigen, elektrisch betriebenen Wärmespender in der Form eines flachen Kissens. Das Ding war noch ein paar Jahre älter als meine Küchenmaschine, wurde aber viel seltener gebraucht. Trotzdem wirkte es irgendwie heruntergekommen. Das lag an seinem abnehmbaren Bezug aus einem damals noch neuartigen textilen Material namens „Malimo„, ein im sogenannten Nähwirkverfahren hergestellter Stoff, benannt nach seinem Erfinder Heinrich Mauersberger aus Limbach-Oberfrohna (DDR). Der experimentierte damals gerade mit verschiedenen Fasern, um die besten Verwendungsmöglichkeiten für seine Kreation herauszufinden. Als Bezugsstoff für Heizkissen war Malimo offensichtlich nicht besonders geeignet. Seine Vorzüge stellten sich erst im Laufe der Zeit heraus. Heute ist der Stoff aus Produkten insbesondere der Bau-, Leder- und Schuhindustrie nicht mehr wegzudenken. Mauersberger heimste dafür hochverdient ein Patent ein, dessen Lizenz die DDR wenig später an die USA verkaufte.

Verglichen mit der silbergrauen, sanft schimmernden, kurzflorigen Hightech-Hülle des neuen Heizkissens war der Bezug des alten ein hässliches Entlein. Allerdings fiel mir erst jetzt auf, dass die Schönheit des neuen Kissens auf Kosten der Hygiene ging. Das Teil war ein monolithisches Gebilde, d.h. Innereien und Hülle waren untrennbar zusammengesteppt, verschweißt und verklebt. Waschen verboten – für medizinische Hilfsmittel eigentlich ein Unding. Damit, dass bei dieser Bauweise eine Reparatur quasi ausgeschlossen war, hatte ich schon gerechnet.

Die Anweisung meiner Hausärztin befolgend, mindestens 6 Wochen lang keine Unterbrechung der Wärmetherapie zu riskieren, holte ich also mein altes, hässliches, aber noch immer funktionstüchtiges Heizkissen aus einer hinteren Schrankecke. Das wird durchhalten, da bin ich mir sicher.

 

(1)Als „Bück-dich-Ware“wurden begehrte Konsumartikel bezeichnet, deren Nachfrage das Angebot bei weitem überstieg und die deshalb  unterm Ladentisch versteckt wurden. Nur Kunden mit „Beziehungen“zum Verkaufspersonal hatten eine Chance, an diese Artikel heranzukommen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert